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Atomic Heart Test: große Shooter-Hoffnung, die fast am Schießen scheitert

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Von: Philipp Hansen

Atomic Heart im Test: Geht der utopische Traum vom Kommunismus 2.0 in Erfüllung? Wir sagen euch, wie viel Herzblut nach 5 Jahren Entwicklung übrig ist.

Hamburg – Atomic Heart kommt nach gefühlt ewiger Entwicklungszeit nun tatsächlich raus, viele schwärmen im Vorfeld von der Shooter-Hoffnung 2023. Ingame.de testet, ob sich revolutionäre Robo-Randale oder plumpe Propaganda und der dicken Stahlhaut von Mundfish‘ neuen Spiel verbirgt. Wir habend Atomic Heart schon vor Release durchgespielt und sagen, ob es wie das monumentale Vorbild Bioshock ein Denkmal in der Videospielgeschichte ist.

Name des SpielsAtomic Heart
Release (Datum der Erstveröffentlichung)21. Februar 2023
Publisher (Herausgeber)Focus Home Interactive
EntwicklerMundfish
PlattformPS5, PS4, Xbox Series X, Xbox One, PC
GenreAction-Rollenspiel, Open-World

Atomic Heart: Mit Hammer, Sichel und viel Krachbumm den Hypetrain umkippen

Eisernen Vorhang auf: Uhren zurückdrehen auf 1955. In Atomic Heart sehen wir eine alternative Sowjet-Utopie. Dank Hammer, Sichel und Roboter ist der Ostblock so mächtig wie noch nie, den Genossen geht es dank der neuen mechanischen Arbeitsklasse so gut wie niemandem sonst. Doch kurz bevor der nächste Schritt, das „Kollektiv“, Mensch und Maschine vereint, droht der Kommunismus 2.0 zu zerbrechen – es kommt zur Robocalypse.

Und nun Vorhang auf für euch: Ihr seid P-3, die raubeinige, psychisch instabile Hand fürs Grobe. Zusammen mit dem dauer-labernden Roboterhandschuh Charl-Les und reichlich Waffengewalt seid ihr das letzte Bollwerk, das die Utopie vor der Dystopie verteidigen soll.

Genosse Major P-3 und Robo-Handschuh Char-Les
Genosse Major P-3 und Robo-Handschuh Char-Les © Mundfish / Atomic Heart

Angst vor Atomic Heart? Der Shooter vom recht unbekannten Entwickler Mundfish war gute 5 Jahre in der Mache und erzeugte in den letzten Monaten richtig Hype. Die „Shooter-Hoffung 2023“ titelte die Fachpresse. Alles Gesehene erinnert anfangs an ein „Sowjet-Bioshock“. Man hätte sich aber auch schlechtere Ahnen aussuchen können, zählt die Bioshock-Reihe doch heute zu den besten Shooter. Doch als ich den Test zu Atomic Heart anfertigen sollte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Atomic Heart hat uns doch in der Preview voll umgehauen, doch kann das Spiel dem der Hype gerecht werden?

„No more Politics“?

Wenige Minuten nach Spielbeginn schaltet ihr, also der Protagonist, das Radio symbolträchtig aus, als über die Geopolitische Lage gesprochen wird. „Politik, hör mir auf“, stöhnt P-3, doch so ganz ohne geht es bei Atomic Heart (leider) doch nicht. Denn das Spiel und das großteils russisch-stämmige Entwicklerstudio Mundfish stehen aktuell hart in der Kritik.

Atomic Hearts Release wird von Boykott-Aufrufen begleitet. Grund sind versimplifiziert die teils stark glorifizierende Sowjet-Vergangenheit, die jetzt in der realen Welt ja auch als ein Grund für die kriegerische Expansion Russlands herhalten muss. Weiter kritisiert wird, dass sich das Team nicht klar gegen den wirklichen Angriffskrieg auf die Ukraine äußert, sondern nur ausweichend zur Thematik reagiert (obwohl Mundfish ins europäische Zypern umgezogen ist). Teilen des Entwicklerstudios wird zudem eine Vergangenheit mit der russischen Propaganda-Maschinerie nachgesagt, die auch als Investor für Atomic Heart fungieren soll.

Im Spiel Atomic Heart selbst wird der glorifizierte Kommunismus jedoch schnell als gescheitert gezeigt. Zwar werden westliche Sanktionen und Angst vor den USA erwähnt – direkte, reale Propaganda, die eingeordnet werden sollte, ist uns beim Test nicht begegnet. Wir konzentrieren uns daher bei Atomic Heart auf das Spiel und nicht auf die Story hinter dem Spiel.

Kommunismus 2.0 in Atomic Heart
Im alternativen 1955 erstrahlt die Sowjet-Union in Atomic Heart © Mundfish

Atomic Hearts ist ein Ego-Shooter, der fast am Schießen scheitert

Geballer aus der Vorkriegszeit? Gespielt wurde für unseren Test von Atomic Hearts vorwiegend auf der PS5. Etwas irritiert hat mich, dass die gehypte „Shooter-Hoffnung 2023“ aber gerade beim Ballern so daneben schießt:

Schießen ist ja nicht alles! Atomic Heart ist aber kein „reiner“ Shooter. Schon früh lernt Genosse Major P-3, dass man auch im Nahkampf ordentlich austeilen kann. Und das bockt richtig, die selbstgebastelten Äxten, Hammern, oder Sägeblatt-Keulen hauen wuchtig rein. Feinde taumeln nach Treffern und Spezial-Manövern zurück und zeigen klaffende Wunden in der Stahlhaut – so muss das sein.

Shotgun in Atomic Heart
Die Shotgun in Atomic Heart haut Köpfe weg – zurecht ab 18 Jahren © Mundfish / Focus Entertainment

Zudem stehen euch über den guten Char-Les noch allerlei magische, pardon, wissenschaftliche Fähigkeiten zur Verfügung: Stromschocks, Eis- oder Feuer und Telekinese-Fähigkeiten sind am Start (und zielen zum Glück fast von alleine). Waffen und Fähigkeiten könnt ihr craften und mehrstufig verbessern, Baupläne schaltet extrem starke Optionen frei und ihr könnt alle investierten Materialien durchs Zerlegen zurückbekommen – das können, nein müssen, sich andere Games abgucken.

Atomic Heart schmeißt euch in die Robo-Apokalypse, zum Glück schwer bewaffnet

Die Robo-Randale überleben: Ihr schlagt euch auch ohne das Anvisieren sehr gut durch die randalierenden Roboter. Etwas schade ist es dennoch. Denn die Waffen machen sonst alles richtig, die sind abwechslungsreich und holzen so richtig rein. Ihr werdet sogar belohnt, wenn ihr häufig Waffen wechselt. Nahkampfschläge laden Energie-Waffen auf, ohne viel Gefummel lasst ihr über Schultertasten zudem mehrere Fähigkeiten mitten im Geballerlos donnern.

Und all die Wehrhaftigkeit habt ihr auch bitter nötig. Denn schon nach wenigen Spielstunden habt ihr es nicht mehr nur mit einzelnen Schnauzbart-Droiden zu tun. Eine ganzen Armee aus verschiedenen Killern, Stahlgesocks und eklige Zombie-Mutanten möchte euch an den Kragen. Dabei ist der Schwierigkeitsgrad überraschend fordernd und verlangt im Gefecht wirklich alle Tricks und Kugeln, die ihr so im Handschuh oder der Schrotflinte habt (ihr könnt aber je nach Blieben die Schwierigkeit ändern, so kommen auch Story-Fans locker durchs Abenteuer). Zuweilen erdet ihr auch überrannt und verliert komplett den Überblick.

Ein Schnurrbart-Droide in Atomic Heart
Ein verstörender Schnurrbart-Droide aus Atomic Heart. © Mundfish

Char-Les und die Supertaste: Ein Genosse ist nie alleine. Auf eurem Ausflug, um mal kurz die Welt zu retten, begleitet euch Char-Les, mit dem ihr euch streitet oder der euch freundlich unterhält. Das Beste ist aber, dass der Robo-Handschuh saugen kann. Ja toll, Haushaltstool oder was? Nein, ihr rennt einfach, mit R1 gedrückt durch den Raum und saugt alles leer, ohne umständlich alles anklicken zu müssen, nur um eine Schublade zu durchsuchen.

Nicht nur das Saugen wird durch R1 getätigt (am PC „F“). Die Taste muss für gefühlt 50 % allen Inputs herhalten: reden, interagieren, sammeln, Telekinese, also sämtliches Tragen von Objekten, alles geschieht durch R1. Dann kann man die Taste noch gedrückt halten und sogar doppelt drücken, um die Scanner-Funktion zu aktivieren.

Robocalypse egal? Erstmal einen Tee bei Babuschka gönnen – Genialer Wahnsinn Overload

Zu viele Ideen für ein Spiel? Atomic Heart strotzt nur so voll wilder, kurioser und durchgedrehter Ideen – gerne könnt ihr hier noch weitere passende Adjektive einsetzen. Das Spiel ist erfrischend kantig und so gar nicht glattgebügelt. Man merkt an jeder Ecke, dass die Entwickler all ihre aberwitzigen Ideen aus 5 Jahren verwursten, die für 3 Vollpreis-Titel reichen würden.

Ein perverser Kühlschrank, der euch aggressiv an-flirtet und dem ihr euch dauernd stellen müsst. Babuschka-Baba-Yagas, die erstmal Tee machen, während sie dann mit AKs Roboter vom Pfefferkuchenhaus auf Stelzen vertreiben. Alles ganz normal in Anlage 3826. Atomic Heart nimmt sich selbst nicht ganz ernst, obwohl das Setting zuweilen richtig Gruselig ist und richtig heftig in die Magengrube haut. Da war ich jedes Mal froh, wenn man wieder an der hellen Oberwelt ankommt.

Oma Sina aus Atomic Heart ist keine wehrlose alte Dame.
Oma Sina aus Atomic Heart ist keine wehrlose alte Dame. © Mundfish

Genosse, geh mal Zeug holen: Atomic Heart schickt euch im Laufe der gut 10 bis 15 Stunden langen Story fortlaufend von A nach B und zurück zu A. Aber wenigstens gibt sich das Spiel reichlich Mühe, die Monotonie zu ansprechend zu inszenieren. Doch trotz der Fasse nervt das Mission-Design mit viel Backtracking doch teils. Hier eine typische Aufgabe:

Atomic Heart, wie viel bietest du den Genossen fürs Geld?

Kein steifer Shooter: Eure Fiebertraum-gleiche Suche nach der Wahrheit hinter dem Angriff auf den Kommunismus 2.0 kann sich locker auf 20 Stunden strecken, wenn ihr Nebenaufgaben und Sammel-Quests abschließen wollt. Die verwinkelten Labore, einst idyllischen Bauernhöfe oder schaurigen Theater laden zum Erkunden ein und belohnen den Forscherdrang fleißig mit Bauplänen, seltenen Ressourcen oder Hintergrundinfos zum Vorfall.

Mini-Spiel Schloss knacken in Atomic Heart
Mini-Spiel Schloss knacken in Atomic Heart © Mundfish / Focus Entertainment

Nicht hässlich, nicht schön: Die Welt sieht übrigens für so ein doch unbekanntes Entwickler-Team recht gut aus. Das Art-Design ist unverbraucht und die Grafik durchaus gut, aber nicht auf Blockbuster-Niveau. Wenn euer Blick über meterhohe Statuen schweift, die sich über malerische Wälder erstrecken, ist die Kulisse das Poesie fürs Auge. Vor allem die Gesichter und ihre Animationen wirken dagegen aber so kühl wie der russische Winter und die Laborgänge sind grau in grau.

Düstere Horror-Stimmung in Atomic Heart
Teils richtig fiese, düstere Horror-Stimmung in Atomic Heart. © Mundfish

Bis die Ohren bluten: Die größte Stärke von Atomic Heart ist der Sound

Fluchen und verflucht geiler Sound: Atomic Heart lässt seinen Protagonisten viel jammern, auch über das eigene Missions-Design. Sprüche wie „die Wissenschaftler müssen jeden Tag 4 Kanister suchen, um eine Tür zu öffnen?“ brechen gelungen die Meta-Ebene. Die Dialoge sind aber gut vertont und noch witziger geschrieben.

Die dauernden Oneliner sind als Kind der 90er genau mein Ding, gefallen aber sicher nicht jedem. Doch als gut erzogener Ehrenmann tat mir der arme Handschuh Char-Les teils leid, weil er grundlos für alles beschimpft wird. Auch wenn er nur nett sein will oder Sachen erklärt. Dauernd muss der kernige Macho P-3 ihn zurechtweisen, manchmal nervt es dann doch.

Was gar nicht nervt, ist der Ton, denn der macht die Musik. Das „Radio aus der Zukunft“ beschallt euch unauffällig im Hintergrund beim Rätseln. Harter Rock und krasse Elektro-Bässe, bei denen der Puls auch ohne Gegner durch die Decke geht und jeder Arzt zu Ruhepausen rät, sorgen im Kampf für Atmosphäre. Teils richtig „unpassende“ heitere Sowjet-Volksmusik, die gezielt das Geschehen konterkariert und einfach genial die bedrohliche Stimmung ins Lächerliche zieht, runden das Klangerlebnis ab.

Fazit: Atomic Heart ist wie Kommunismus 2.0: gut auf dem Papier – aber in echt mit Fehlern

ProContra
schönes retro-schick DesignZielen mit Waffen schwammig
Unverbrauchtes Setting der Hightech-SowjetunionGrafik 'nur' Mittelmaß
Viel zu entdecken abseits der WegeGesichter leblos animiert
Story und Gameplay mit vielen irre lustigen IdeenSpringen und Klettern hakelig
Musik-Untermalung ist überirdisch genialStory ist recht durchschaubar
Unterschiedliche Gegner-ArtenEnde abrupt inszeniert
Waffen und Fähigkeiten leveln und einfach zurücksetzenWenige Bosskämpfe
Waffen hauen ein, Viel Trefferfeedback(Kontroverse um Entwickler)
Unterschiedliche Spezial-FähigkeitenTeils wenig Erklärung oder Hilfe vom Spiel
Char-Les Saugfähigkeit (einfaches Looten)Oberwelt-Karte unübersichtlich
Nora, der sexy KühlschrankKämpfe manchmal etwas hektisch
Fordernder Schwierigkeitsgrad

Mein Fazit: Mit Bioshock hat man sich leider ein überlebensgroßes Vorbild genommen (oder aufgezwungen bekommen), an das Atomic Heart nicht ganz heranreicht. Das Setting im fiktiven Sowjet-Utopia lädt aber definitiv für einen spaßigen und absurden Kurzurlaub ein, von dem man noch später gerne berichtet. Wer nur für die Story kommt, der geht am Ende enttäuscht, wer für das Gameplay und die Shooter-Mechanik kommt, schießt sich ins Bein.

Sensen-Roboter in Atomic Heart
Knallt Atomic Hearts ins Schwarze oder voll daneben? © Mundfish / Focus Entertainment

Man sollte sich klarmachen, dass man einen wilden Genre-Mix aus Ballern, Rollenspiel, einer Prise Horror und viel Wahnsinn vorgesetzt bekommt, den man mit einem kantigen Löffel runterschlucken muss. Doch wem die glattgebügelten Hochglanz-Triple-A-Titel nerven, der wird in Atomic Hearts solide bis starke Abwechslung abseits des Mainstream finden. Genossen, greift zum Controller (oder zur Maus), wenn ihr nicht so sehr an die Hand genommen werden wollt und lieber selbst den Handschuh anhabt.

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