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NieR Replicant im Test: Eine Liebeserklärung an ein unperfektes Spiel

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Von: Joost Rademacher

Nach 10 Jahren erhält NieR Replicant endlich einen Release auf PS4, Xbox One und PC. Wir haben uns im Test durch alle Enden und emotionale Abgründe gekämpft.

Hamburg – Wenn Fans von obskuren japanischen Rollenspielen sich auf emotionales Trauma freuen und Yoko Taro als unterschätzten Heiland des Gaming feiern, dann ist klar: Es liegt wieder NieR in der Luft. In einem Anflug von etwas, das sich nur als glückliche Fügung beschreiben lässt, hat Square Enix das originale NIER, fast elf Jahre nach seinem ersten Release, als NieR Replicant Ver.1.22474487139, neu aufgelegt. Wer hier aber nur ein wenig hochskalierte Auflösung erwartet, irrt sich. Replicant ist ein Herzensprojekt, das sich fast wie ein Dankeschön an eine seit Jahren treue Fanbase spielt.

Release (Datum der Erstveröffentlichung)23. April 2021
Publisher (Herausgeber)Square Enix
SerieDrakeNieR-Reihe
PlattformPS4, Xbox One, PC
EntwicklerToylogic, Cavia (Original)
GenreAction-Rollenspiel

NieR Replicant im Test: Remake? Remaster? Versionsupgrade!

In der Vorschau zu NieR Replicant Ver.1.22474487139 vor wenigen Wochen waren wir uns noch nicht ganz sicher, ob das Spiel jetzt eher als Remake oder als Remaster durchgehen würde. Jetzt sind wir ein wenig schlauer – es ist keins von beidem. Serienerfinder Yoko Taro nennt Replicant stattdessen lieber ein Versionsupgrade. Man sollte meinen, dass das auch den zahlenlastigen Untertitel Ver.1.22(...) erklären würde, aber der Director hat schon zugegeben, dass der Titel eigentlich nur eine zufällige Zahlenreihe ist, die absolut keine Bedeutung für das Spiel hat. Klassischer Taro, der Mann ist halt ein kleiner Troll.

Die Bezeichnung ‚Versionsupgrade‘ trifft es für NieR Replicant beim genauen Hinschauen aber ganz gut. Im Grunde ist das komplette Original in seinem Gerüst unangetastet geblieben. Die komplette Struktur von NIER (Original) ist noch erhalten und bleibt der felsenfeste Anker von Replicant. Dafür wurde aber an so vielen Ecken und Enden gelötet und aufgebohrt, dass der Titel „Remaster“ dem Spiel in keiner Weise gerecht werden könnte. Zum Glück haben die Entwickler:innen bei Toylogic ein Gespür dafür bewiesen, wo NIER diese Ausbesserungen braucht und was sie auf keinen Fall anfassen sollten. So zum Beispiel in Sachen Story.

NieR Replicant Keyart Protagonist Grimoir Weiss Logo
NieR Replicant im Test: Eine Liebeserklärung an ein unperfektes Spiel © Toylogic/Square Enix

NieR Replicant im Test: Die größte Stärke bleibt erhalten

Wer NieR Replicant spielt, spielt es für die Geschichte. Die Welt, die Charaktere und der Wahnsinn, den Yoko Taro erschaffen hat, haben NIER zu einer der besten und wichtigsten Geschichten der siebten Konsolengeneration gemacht. Davon ist auch bis ins Jahr 2021 kaum etwas verloren gegangen. Ihr seid als junger Teenager (namens Nier) in einer idyllischen Fantasy-Welt auf der Suche nach einer Heilung für eure Schwester Yonah. Selbige leidet nämlich an der Runenpest, einer Krankheit, die allmählich die gesamte Menschheit dahinrafft. Also will ‚Bruder Nier‘ ein sagenumwobenes Heilmittel finden und sammelt dabei eine illustre Riege aus mächtigen Begleitern an.

Okay, so auf dem Papier klingt das weniger nach Pulitzer-Preis und eher nach der x-ten JRPG-Prämisse, die man bei jedem Grabbelkisten-Spiel finden könnte. Aber weit gefehlt! Unter der unscheinbaren Haube verbergen sich tiefe, tiefe Abgründe. NieR Replicant spielt gezielt mit einigen typisch-generischen Eigenheiten des Rollenspiel-Genres und gibt euch ein falsches Gefühl der Sicherheit, damit es umso mehr wehtut, wenn es euch schließlich den Teppich unter den Füßen wegzieht. Und das wird Replicant im Laufe seiner fast 40 Stunden Spielzeit immer wieder machen.

NieR Replicant Hauptcharakter Leuchtturm Meeresfront
NieR Replicant: Die malerische Fassade trügt gerne mal © Square Enix/Toylogic

Wie jedes von Yoko Taros Spielen hat NieR Replicant mehrere Enden und ihr müsst jedes einzelne davon sehen, wenn ihr die Geschichte in voller Gänze erleben wollt. Das erhöht den Wiederspielwert und hält die Erzählung durch konstante neue Plottwists unheimlich unterhaltsam und spannend. Ihr solltet nur auch ein gewisses Mindestmaß an Geduld mitbringen, wenn ihr die zweite Hälfte des Spiels für jedes neue Ende immer wieder durchspielen müsst. Und lasst euch mal ganz spoilerfrei sagen: Selbst wenn ihr meint, ihr hättet wirklich alles gesehen, habt ihr das echte letzte Ende noch nicht erreicht.

NieR Replicant im Test: Ein 60€-Album mit einem kostenlosen Spiel obendrauf

Aber eine gute Geschichte ist auch abhängig von den Charakteren, die sie bevölkern. Nier, seine Begleiter Emil und Kainé sowie das schwebende Magie-Buch Grimoire Weiss sind so charmant und hervorragend geschrieben, wie schon 2010. Noch dazu klingen sie dank eines hochkarätigen Casts aus Synchronsprecher:innen und neu aufgenommener Vertonung für sämtliche Dialoge frischer und lebhafter denn je. Noch mehr freut es uns, dass der Soundtrack ein ähnliches Facelifting erhalten hat.

NieR Replicant Kainé
NieR Replicant: Wusstet ihr‘s? Kainé wird von Laura Bailey (Abby, The Last of Us 2) gesprochen © Square Enix/Toylogic

Keiichi Okabes originaler Soundtrack zu NIER galt immer als heimlicher Star des Spiels und hätte insofern eine Auffrischung gar nicht unbedingt nötig gehabt. Aber verdammt, sind wir froh, dass der OST für Replicant neu aufgenommen worden ist. Okabe und sein Studio MONACA haben sämtliche Bremsklötze gezogen, um jeden Track mit zusätzlichen Arrangements bis in die letzte Sechzehntel-Pause aufzufüllen. Da muss die Musik vor dem Vergleich mit den Stücken eines Studio Ghibli nicht mehr zurückscheuen – und die Rückkehr von Emi Evans als wunderschöne Gesangsstimme an vorderster Front setzt dem Ganzen das üppige Trüffelsahnehäubchen auf.

NieR Replicant im Test: Spielerisch kein Automata, aber nah dran

Na gut, jetzt haben wir die größte Krux an NieR Replicant aber auch lange genug hinausgezögert. Story, Charaktere und Musik waren ja schon 2010 eine Klasse für sich, doch wie schaut es in den Dingen aus, in denen NIER damals versagt hat? Oder einfacher gefragt: Spielt sich das Spiel endlich halbwegs passabel? Die Antwort fällt auf ein entschiedenes Jein. Oder eher ja UND nein. Während NieR Replicant in einigen Gameplay-Elementen große und wichtige Schritte nach vorne macht, tritt es in anderen Dingen etwas verloren auf der Stelle.

Die gute Nachricht ist schon einmal, dass die bloße Steuerung und die Kämpfe von NieR Replicant endlich Spaß machen. Toylogic hat sich eine Scheibe bei Platinum Games abgeschnitten und das Kampfsystem auf einen Stand gebracht, der zwar nicht ganz an NieR: Automata heranreicht, aber immerhin die richtigen Lehren daraus zieht. Die Bewegungs- und Reaktionsgeschwindigkeit des Hauptcharakters ist um einiges erhöht, die Kombomöglichkeiten im Kampf wurden aufgestockt und auch Magie ist weniger sperrig, weil jetzt gleichzeitig mit dem Nahkampf einsetzbar.

NieR Replicant Schrotthaufen Boss Grimoire Weiss Magie
NieR Replicant: Endlich stressfrei nutzbar – Die Magie von Grimoire Weiss © Square Enix/Toylogic

Zwar kommt die Charakterentwicklung immer noch zu kurz und der Brunnen der Angriffsmöglichkeiten ist nicht bodenlos, aber von der Behäbigkeit von 2010 ist zum Glück kaum noch was zu bemerken. Das dürfte auch der verbesserten Grafik und Performance zu schulden sein, die mit flüssigeren Animationen und stabilen 60 FPS (zumindest auf PS5) so einige Falten der letzten zehn Jahre ausbügelt. Nimmt man dann noch den wilden Mischmasch aus Bullethell-Elementen, 2D-Passagen und mehr Überraschungen dazu, sollte NieR Replicant ja eigentlich spielerisch rundum gelungen sein.

NieR Replicant im Test: 2 Melonen, 5 Schafswolle, 20 Eisenerz, 80 Titanlegierungen...

Jetzt aber die schlechte Nachricht, und hier kommen wir wieder zum Thema Geduld. Das Pacing von NieR Replicant und seine Nebenquests sind in weiten Teilen genauso träge und genauso öde wie früher. Man sollte meinen, dass die Entwickler:innen hier nochmal Hand angelegt hätten, um die Erfahrung weniger einschläfernd zu machen. Die Nebenquests bleiben aber geplagt von anspruchslosen Sammelaufgaben, unnötig langen Laufwegen und einem generellen Gefühl von Stumpfsinnigkeit, das gern mal den Spaß aus der Erfahrung saugt.

NieR Replicant Adlerhorst Hauptcharakter Grimoire Weiss
NieR Replicant: Den Adlerhorst werdet ihr immer wieder bereisen müssen © Square Enix/Toylogic

Dazu sollten wir jedoch auch anmerken, dass diese Nebenquests eben rein optional sind. Abgesehen von einigen Ausnahmen für zusätzliche Waffen könntet ihr die auch links liegen lassen. Es ist nur schade und eine verpasste Möglichkeit, dass Toylogic ein paar der besonders umständlichen Passagen nicht ein wenig überarbeitet hat.

Eure Toleranz für so zähe Momente wird wohl einen nicht unwesentlichen Teil davon ausmachen, ob ihr Spaß an NieR Replicant haben werdet. Wenn ihr jedes Ende sehen wollt, müsst ihr schließlich mehrere Durchläufe spielen und zusätzlich alle im Spiel verfügbaren Waffen finden. Da werdet ihr also um ein paar Nebenquests nicht herum kommen.

NieR Replicant im Test: Eine Neuauflage aus Leidenschaft

NieR Replicant ist trotzdem, auch im Jahr 2021, eine Gesamterfahrung, für die sich ein wenig Durchhaltevermögen wieder und wieder auszahlt. Nicht nur, weil die Story eine bessere Erfahrung wird, je mehr man sich darauf einlässt. Was dieses Versionsupgrade (also echt, dieser Ausdruck wird sich doch nie durchsetzen – Anm. d. Red.) am Ende ausmacht, ist eine Leidenschaft der Entwickler:innen, die im Gaming heute eher selten geworden ist.

Nier Replicant Hauptcharakter Schatten Kampf
NieR Replicant: Mehr als nur ein Remaster © Square Enix/Toylogic

Square Enix hätte eine Version mit schärferen Texturen bekommen können, nur um dann ein 40€-Preisschild drauf zu klatschen und es aus der Tür zu schiffen. Stattdessen sind Yoko Taro, Toylogic und alle Beteiligten weit darüber hinaus gegangen und haben aus NieR Replicant tatsächlich die beste Version einer kleinen, oft übersehen Rollenspiel-Perle gemacht. Es wird einige Male an den Nerven zerren und beizeiten eintönig wirken, aber langjährige Fans der Reihe könnten sich kein besseres Dankeschön für ihre Unterstützung wünschen. Und wer NieR noch nicht gespielt hat, könnte keinen besseren Einstieg bekommen.

NieR Replicant im Test: Unsere Wertung zur Neuauflage des Kultklassikers

NieR Replicant Wertungsgrafik
NieR Replicant im Test: Unsere Wertung zur Neuauflage des Kultklassikers © ingame

Nachdem das originale NIER bei Kritikern mittelmäßig ankam und sich noch mittelmäßiger verkaufte, spielt NieR Replicant sich wie eine große Genugtuung. Die zuständigen Entwickler:innen bei Toylogic haben keine Mühen gescheut, um das Spiel in fast allen Bereichen in einen Zustand zu bringen, der sich auch 2021 gut sehen lassen kann. Ob das für einen finanziellen Erfolg bei Square Enix reicht, bleibt abzuwarten. Denn im Kern ist NieR Replicant immer noch so verkopft und eigen wie immer – und das ist gut so.

Es braucht einige Zeit, um wirklich in Fahrt zu kommen und hat seine Längen, aber dazwischen ist NieR Replicant ein einzigartiges Rollenspiel, dessen Story besser wird, je mehr Schichten man zurück schält. Es ist viel mehr als die Summe seiner Teile. Das war es auch früher schon, nur sind die Einzelteile jetzt endlich auf Hochglanz poliert und greifen fast perfekt ineinander.

ProContra
+ Eine der besten Geschichten der siebten Konsolengeneration in frischem Anstrich- Entpuppt sich gerne als zähe Geduldsprobe
+ Großartig geschriebene und realisierte Charaktere- Nebenaufgaben sind so eintönig wie früher
+ Klingt mit neu aufgenommenen Stimmen und Musik so gut wie nie- Kaum Charakterentwicklung oder Anpassungsmöglichkeiten
+ Bitter nötiges Facelifting für Steuerung und Kämpfe
+ Neuauflage aus Leidenschaft

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