A Plague Tale: Innocence im Test - Fesselnd, emotional, schnörkellos

Bruder und Schwester gegen Pest, Ratten und Inquisitoren - Mit A Plague Tale: Innocence möchten die französischen Asobo Studios eine mitreißend emotionale Geschichte erzählen, die uns in die Tiefen des Mittelalters verfrachtet. Dabei stehen Story und Charaktere im Fokus, während kreative Rätsel für Auflockerung sorgen. Wir haben das Adventure für euch getestet und verraten, warum sich die emotionale Reise an der Seite von Amicia und Hugo nicht vor Größen wie The Last of Us verstecken muss.
Im Fadenkreuz der Fanatiker
In A Plague Tale: Innocence schlägt das ausgehende Mittelalter mit allem um sich, für was die finstere Epoche bekannt geworden ist - sehr zum Leidwesen der beiden Protagonisten Amicia und Hugo De Rune. Nachdem die Inquisition in den Landsitz der Adelsfamilie eindringt und ihren Vater kaltblütig ermodert, bleibt Bruder und Schwester keine andere Wahl als die Flucht zu ergreifen. Einen Kinderschritt vor dem nächsten lernen die beiden, was es bedeutet, in einer Welt zu überleben, die mehr und mehr im Chaos versinkt. Tapfer versucht Amicia dabei alles, ihren naiven Bruder vor den Schrecken zu schützen, die ihnen auf ihrer Reise begegnen. Die Pest hat nicht nur die Großstädte fest im Klammergriff, sondern wütet auch in den ländlichen Regionen Frankreiches. Berge von Tierkadavern türmen sich auf, Ratten lauern im Schatten und schnell wird Amicia klar: Die Häscher der Inquisition sind nicht ohne Grund hinter den beiden her. Sie wollen ihren kleinen Bruder - und das um jeden Preis.
Viel mehr der in 17 Teilen erzählten Geschichte wollen wir euch an dieser Stelle gar nicht verraten, denn das Abenteuer der beiden Geschwister lebt von seinen Wendungen, Höhepunkten und Tiefschlägen - und davon gibt es eine ganze Menge. Während zu Beginn ihrer Reise die Beziehung zwischen Amicia und Hugo im Vordergrund steht, persönlich, nahbar und echt, nimmt das Märchen der beiden Geschwister innerhalb kürzester Zeit Fahrt auf und entwickelt Kapitel für Kapitel einen Sog, der euch bis zum furiosen Finale nicht loslässt. Auch wenn uns die bodenständigen Parts der Story deutlich besser gefallen haben als die große Verschwörung rund um den kleinen Bruder, bleibt die Erzählung vom Intro bis zu den Credits auf absolutem Top-Niveau. Das gelingt vor allem deshalb, weil nicht nur die De Runes, sondern ausnahmslos jeder Charakter in A Plague Tale konsequent und gut geschrieben ist. Und darin schließen wir auch die bösen Mächte mit ein, welche mit von Beulen übersäten Fingern nach Hugos geheimen Kräften trachten.
Linear und stolz darauf
Mit Charakteren allein ist es aber natürlich nicht getan. Auch die Atmosphäre muss stimmen. Und bei Gott, das tut sie! Jeder der vielfältigen Schauplätze, sei es ein von Leichen übersätes Schlachtfeld, eine verwinkelte, stockfinstere Bibliothek oder eine versteckte Mühle mitten in einem idyllischen Waldstück. A Plague Tale: Innocence schafft es mit traumwandlerischer Sicherheit, euch in die richtige Stimmung zu versetzen. Dazu trägt das hervorragende Pacing der Geschichte, mal trauernd gemächlich, mal bedrohlich gehetzt, genauso bei wie die Animationen der Charaktere und spektakuläre Lichteffekte. Wenn Amicia auf der Flucht vor bewaffneten Soldaten in einer Schlammpfütze steckenbleibt und kämpfend einen Fuß vor den anderen setzt, dann sorgt das für amtliche Schweißausbrüche. Gleiches gilt für den Umgang der beiden miteinander, denn jedes noch so kleine Gespräch zwischen Bruder und Schwester hat uns auf einer tiefen, emotionalen Ebene berührt.
So manches Mal heben wir Hugo durch ein Fenster, ohne zu wissen, was ihn auf der anderen Seite erwartet. Es sind diese kleinen Momente, in denen die Entwickler das junge Mädchen zögern lassen, bevor sie ihren Bruder ins Ungewisse stößt, die uns eins werden lassen mit den Figuren. Die Wurzeln im Indie-Sektor merkt man dem Spiel dabei zu keiner Sekunde an - jede Animation sitzt, jeder perfekt abgestimmte Lichteffekt zieht eine Gänsehaut nach sich. Letztlich ist nämlich auch das finstere Mittelalter nicht immer nur düster, grau und leblos. An vielen Stellen im Spiel brechen Amicia und Hugo aus den Schrecken der Epoche aus und finden sich in verträumten Wäldern wieder, die nicht nur in den Geschwistern, sondern auch uns die Hoffnung auf einen Neuanfang wecken. Natürlich nur ein kurzes Luftholen, um Sekunden später in die blutige Realität des 14. Jahrhunderts zurückzukehren. Die Entwickler verzichten dabei größtenteils auf weitläufige Gebiete und lassen gerade genug Raum für gut versteckte Sammelobjekte. Ansonsten habt ihr es aber mit einem kompromisslos linearen Adventure zu tun, was der vielschichtigen Story enorm zu Gute kommt.
Schleich und Misch
Spielerisch bedeutet das vor allem eins: Schleichen. Amicia hat zwar immer ihre treue Schleuder im Gepäck, mit der sie auf Vogelscheuchen, Töpfe oder andere Gegenstände in der Umgebung feuert, um ahnungslose Soldaten abzulenken, eine Kämpferin ist das junge Mädchen aber selbstverständlich nicht. Haben die Häscher der Inquisition erst einmal mitbekommen, wer sie mit Steinen beschießt, hilft häufig nur die Flucht ins Unterholz. In der Regel reicht nämlich schon ein Schwerthieb und Amicia erleidet das gleiche Schicksal wie ihr Vater. Auch wenn sie Feinden ohne Helm problemlos die Rübe von den Schultern schießen kann, ist es gerade im späteren Spielverlauf ratsam, zunächst die eigene Vorgehensweise durchzuplanen. Denn mit jedem Kapitel steigt nicht nur die Menge der Gadgets, auf die Amicia zugreift, sondern auch die Zahl der feindlichen Soldaten. In der Theorie ist es möglich, fast jede Patrouille zu umgehen, an einigen Stellen seid ihr jedoch auf die besonderen Fähigkeiten der Geschwister angewiesen.
Da die Inquisition im späteren Spielverlauf immer besser gepanzerte Truppen schickt, um Hugo aufzuspüren, reicht die Schleuder allein schon bald nicht mehr aus. Mit jedem neuen Charakter, der zu den beiden stößt, gewinnt Amicia praktische Fähigkeiten aus dem Bereich der Alchemie dazu. Was nach den ersten Stunden nach einem kompromisslos realistischem Setting aussieht, driftet in der zweiten Hälfte also deutlich in den Fantasy-Bereich ab. So lernt sie zum Beispiel, aus Alkohol, Stoff und Salpeter ein sogenanntes Ignifer herzustellen. Damit lassen sich erloschene Feuer aus der Ferne neu entzünden - besonders hilfreich gegen die Rattenplage. Bevor ihr die neun verschiedenen Skills jedoch nutzen könnt, müsst ihr zunächst die Materialien dafür sammeln. Diese finden sich überall in der Spielwelt und lassen sich mithilfe des rudimentären Crafting-Systems schnell und problemlos in nützliche Items verwandeln. Zwei Kritikpunkte am ansonsten soliden Kampf- und Crafting-System bleiben jedoch: Während ihr in den ersten Stunden so gut wie keine neuen Fähigkeiten erlernt, häufen sich diese im späten Spielverlauf, sodass die Lernkurve für unseren Geschmack zu flach ausfällt. Außerdem bleiben die sporadischen Upgrades für unsere Schleuder hinter den Erwartungen zurück. Sie sind nicht mehr als eine nette Dreingabe und nehmen leider kaum Einfluss auf die Kampf- und Schleichpassagen.
Licht, Schatten und lauter Ratten
Die Inquisition ist jedoch bei Weitem nicht der einzige Feind, mit dem ihr euch in A Plague Tale: Innocence herumärgern müsst. Mindestens genauso bedrohlich, sowohl für die Geschwister als auch die Inquisition, ist die schier unendliche Anzahl an Ratten, die das Land in Kadavern ertränkt. Mit der Pest kamen die schwarzen Viecher, brechen urplötzlich aus dem Boden oder formen sich zu einer todbringenden Welle, die alles in ihrem Weg verschlingt. Um die pelzigen Plagegeister optimal in Szene zu setzen, haben die Asobo Studios eine Grafik-Engine extra für die Ratten entworfen. Die Folge: Wirklich jeder Nager entwickelt ein Eigenleben, sodass euch - wenn ihr nicht aufpasst - ein lebendiger Organismus aus fiependen Viechern umzingelt und kurzen Prozess mit den Geschwistern macht. Allerdings sind die Ratten deutlich mehr als nur stimmungsvolles Stilelement, das bei uns den Ekel hochkochen lässt. Sie gehören zum Gameplay mit dazu und erhalten besonders in den seichten Rätsel-Passagen des Spiels eine gewichtige Rolle.
Gekonntes Schleichen und gelegentliche Kämpfe sind nämlich nur ein kleiner Teil des Pest-Abenteuers. Für die französischen Entwickler stehen Charaktere und Geschichte immer an erster Stelle, sodass sich die spielerischen Element mit einer untergeordneten Rolle begnügen müssen. Trotzdem stellt euch A Plague Tale ständig vor kleine Puzzles, die mit innovativen Mechaniken glänzen können. Glücklicherweise ist die Rattenbrut nämlich arg lichtscheu und flieht, sobald ihr zur Fackel greift. Somit avanciert das kreative Spiel mit Licht und Schatten zur Grundlage für etliche Rätsel, die nicht allzu komplex ausfallen, aber enorm zur bedrohlichen Atmosphäre beitragen. Der Clou: Nicht in jeder Situation bedeutet eine Lichtquelle auch das Überleben, denn was die Ratten verjagt, bringt natürlich die Mitglieder der Inqusition auf eure Fährte. Es gilt also, die beiden Feinde gegeneinander auszuspielen, indem ihr die Laternen der Soldaten per Schleuder zum Erlöschen bringt und den Nagern somit eine gern gesehene Mahlzeit beschert. Anfangs gestalten sich die Lösungswege noch recht einseitig, mit jedem Kapitel nimmt die Komplexität der Rätsel jedoch zu. Alles in allem fungieren sie als perfekter Klebstoff zwischen Gameplay und Geschichte.
Ein atmosphärisches Biest
Den letzten Kick zum Meisterwerk liefern die Asobo Studios im Bereich Präsentation. Grafisch kann A Plague Tale: Innocence zwar nicht ganz mit Großkalibern wie The Last of Us oder oder God of War mithalten, liefert für das begrenzte Budget aber ein unglaubliches stimmiges Gesamtpaket ab. Die Zwischensequenzen sind bis auf die letzte Wimper herzzerreißend, packend oder entwaffnend ehrlich inszeniert und so konnten wir uns die ein oder andere Träne nicht verkneifen. Auch wenn es gelegentlich so wirkt als wäre man beim Regler für Filmkorn etwas zu großzügig gewesen, machen die Lichtstimmungen und Umgebungen aus dem Titel ein atmosphärisches Biest, das den Dreiklang aus Story, Stimmung und Stil so punktgenau trifft, dass wir es kaum glauben können. Nur in Ausnahmefällen trüben nachladende Texturen das Gesamtbild ein wenig, sind aber schnell vergessen, wenn man sich die liebevollen Interieurs und Landschaften genauer anschaut.
Darüber hinaus kann sich A Plague Tale wirklich hören lassen. Auch wenn die deutsche Synchronisation nicht auf dem absoluten Top-Level des französischen Originals und der englischen Umsetzung mitspielt, liefern die Sprecher eine solide Leistung ab. Besonders die deutsche Stimme von Hugo hat es uns angetan. Noch größeren Anteil an der packenden Atmosphäre trägt jedoch der Soundtrack. Von zitternden Geigenklängen bis hin zum tief drohenden Kontrabass: Olivier Deriviere, der bereits mit dem Soundtrack zum Überraschungshit Vampyr von sich reden machen konnte, liefert musikalische Untermalung, die zwischen nervenzerfetzend und rührend oszilliert. Besonders in Fluchtsequenzen treiben seine schnellen Streicher euch den Schweiß auf die Stirn, die er zum großen Höhepunkt immer weiter verzerrt und somit zu Erfüllungsgehilfen der packenden Geschichte verwandelt.
Pros
Cons
Fazit
Ihr liebt hochemotionale Geschichten mit Charakteren so echt wie das Leben selbst? Dann kommt ihr 2019 an A Plague Tale: Innocence nicht vorbei. Die Reise von Amicia und Hugo zeigt das ausgehende Mittelalter in aller Grausamkeit, bedrückender Enge und legt dabei schonungslos menschliche Abgründe offen. Sekunden später jedoch rührt es zu Tränen und macht seinem Namen alle Ehre: Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein vielschichtiges Märchen, das euch im Intro packt und bis zu den Credits nicht mehr loslässt. Das rudimentäre, wenn auch gelungene Gameplay macht Platz für nachvollziehbare Charaktere und 15 schnörkellos inszenierte Spielstunden. Als Klebstoff dieser stimmigen Singleplayer-Erfahrung dienen innovative Rätsel, die sich Licht und Schatten zunutze machen und euch in Einklang mit nervenzerfetzenden Orchester-Sounds auf ein schrecklich schönes Abenteuer schicken. Absolute Kaufempfehlung!